Das Blankaalstadium


Der Europäische Aal (Anguilla anguilla) ist eines der rätselhaftesten Lebewesen der Weltmeere. Er durchläuft einen einzigartigen Lebenszyklus, der mit einer unglaublichen Wanderung endet. Nachdem er Jahre bis Jahrzehnte in Europas Flüssen, Seen und Küstengewässern verbracht hat, vollzieht er eine tiefgreifende Verwandlung zum Blankaal, um in die Sargassosee zu wandern – ein Ziel, das er nach bis zu 6000 Kilometern erreicht. Dort laicht er ab und stirbt, ohne jemals zurückzukehren.

Bevor der Europäische Aal seine lange Reise antritt, muss er sich auf tiefgreifende Weise an die neuen Umweltbedingungen anpassen. Diese Metamorphose ist notwendig, um die Strapazen der Wanderung und die geänderten Lebensbedingungen im offenen Ozean zu überstehen. Die auffälligste Veränderung betrifft die äußere Erscheinung. Während der Aal im Gelbaal-Stadium eine gelblich-bräunliche Färbung aufweist, um sich in den trüben und pflanzenreichen Gewässern Europas optimal zu tarnen, entwickelt er im Blankaal-Stadium eine silbrig glänzende Unterseite und einen fast schwarzen Rücken. Diese neue Färbung dient der Verbergung in der Tiefsee und schützt ihn vor Raubfischen, die von unten nach oben nach Beute suchen. Der helle Bauch der Blankaale weist also einen geringeren Kontrast zur hellen Wasseroberfläche auf und dient so – im Zusammenspiel mit dem Licht des Himmels – der besseren Tarnung von unten. Ebenso bietet der dunklere Rücken, der sich weniger stark von der Tiefe abhebt, Schutz vor Raubtieren von oben, wie etwa Vögeln.

Neben der Farbveränderung vergrößern sich auch die Augen des Aals erheblich. Dies ist eine Anpassung an die veränderten Lichtverhältnisse im offenen Ozean, wo Licht nur noch in geringen Mengen in die Tiefe dringt. Größere Augen ermöglichen eine effizientere Nutzung des spärlichen Lichts und verbessern die Wahrnehmung von Bewegungen in der Dunkelheit. Nachts schwimmen Aale in 100 bis 200 Metern Wassertiefe, tagsüber in 800 bis 1000 Metern. 
Ein besonders bemerkenswerter Prozess ist die Rückbildung des Verdauungssystems. Im Blankaal-Stadium nimmt der Aal keine Nahrung mehr auf.

Sein Magen und Darmtrakt verkümmern, da sie auf der monatelangen Reise durch den Atlantik nicht mehr benötigt werden. Während sich Aale zum Blankaal umwandeln, stellen sie die Nahrungsaufnahme zunehmend ein. Große Blankaale beißen daher beim Angeln nur noch reflexartig – und das meist nur noch während ihrer tatsächlichen Abwanderung. Je näher sie also dem Meer kommen, desto seltener werden sie gefangen. Stattdessen verlässt sich der Aal vollständig auf die in seinen Muskeln und der Haut gespeicherten Fettreserven. Diese Reserven wurden in den Jahren zuvor als Gelbaal angelegt und sind essenziell für das Überleben auf der Reise und die spätere Fortpflanzung.

Eine weitere Veränderung betrifft die Schwimmblase, ein Organ, das den Auftrieb reguliert. Die Anpassungen in der Schwimmblase sorgen dafür, dass der Aal die schwankenden Druckverhältnisse während seiner Wanderung besser ausgleichen kann. Dies ist von besonderer Bedeutung, da sich Aale ja auf ihrer Reise in unterschiedlichen Tiefen bewegen und sich unter Umständen tiefere Wasserschichten suchen müssen, um Feinden zu entkommen oder ungünstige Strömungen zu umgehen.

All diese physiologischen Anpassungen machen den Aal zu einem außergewöhnlich spezialisierten Wanderfisch, der in der Lage ist, Tausende von Kilometern unter extremen Bedingungen zurückzulegen. Doch der Weg in die Sargassosee ist voller Gefahren, die seine Rückkehr an den Ursprungsort seiner Art ungewiss machen.

Sobald die Aale ihren Lebensraum in den europäischen Süßgewässern verlassen, beginnt eine der längsten und gefährlichsten Wanderungen im Tierreich. Diese Reise ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden, sowohl natürlichen als auch menschengemachten.

Die ersten Hürden bestehen oft schon auf dem Weg zum Meer. Viele europäische Flüsse sind durch Wehre, Dämme und Wasserkraftwerke unterbrochen. Während Jungtiere – die Glasaale – oft über Fischaufstiege, durch künstliche Umgehungen in die Flüsse oder Besatzmaßnahmen gelangen können, gestaltet sich der Abstieg der erwachsenen Blankaale deutlich schwieriger. Viele sterben in den Turbinen der Wasserkraftwerke oder werden durch die Barrieren ihre Reise gar nicht erst antreten können. Einige Aale sind in der Lage, Hindernisse zu umgehen, indem sie über feuchtes Land kriechen – ein seltenes, aber bekanntes Phänomen, das zeigt, wie anpassungsfähig diese Tiere sind.

Ein weiteres Problem stellen falsche Besatzmaßnahmen dar, bei denen Aale in Gewässer ausgesetzt werden, die keinen Zugang zum Meer haben. In solchen Fällen haben die Tiere keine Möglichkeit, ihre natürliche Wanderung anzutreten, und verbleiben i.d.R. in diesen isolierten Gewässern, bis sie sterben. Dies führt zu unnatürlichen Populationsstrukturen und kann langfristig das genetische Gleichgewicht der Art beeinflussen.

Nach dem Erreichen der Küstengewässer beginnt die eigentliche Atlantiküberquerung. Hier sind die Aale zahlreichen natürlichen Feinden ausgesetzt. Große Raubfische wie Haie und Thunfische jagen bevorzugt wandernde Aale. Auch Seevögel, die an den Küsten auf Beute lauern, stellen eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Zudem sind Meeressäuger wie Delfine und Robben in der Lage, Aale aufzuspüren und zu erbeuten.

Neben den Räubern ist der Aal auch durch Krankheiten und Parasiten bedroht. Ein besonders problematischer Parasit ist der aus Asien eingeschleppte Schwimmblasenwurm (Anguillicola crassus). Dieser befällt die Schwimmblase des Aals, was seine Tauchtiefe und Manövrierfähigkeit beeinträchtigt. Infizierte Aale haben oft eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit und sind anfälliger für Raubtiere.

Schwimmblasenwurm (Anguillicola crassus)

Zusätzlich zu diesen natürlichen Gefahren wirkt sich der Klimawandel auf die Wanderung der Aale aus. Veränderungen der Meeresströmungen, insbesondere des Golfstroms, können dazu führen, dass die Wanderroute länger oder anstrengender wird. Dies erhöht die Sterblichkeit und könnte langfristig die Reproduktionsrate der Art beeinträchtigen.

Nach monatelanger Wanderung erreichen die überlebenden Aale schließlich ihr Ziel: die Sargassosee. Diese Region des westlichen Atlantiks, benannt nach den dort vorkommenden Sargassum-Algen, ist der einzige bekannte Laichplatz des Europäischen Aals. Trotz intensiver Forschung wurde noch nie ein laichender Aal direkt beobachtet, doch Analysen von Larvenverbreitungen lassen vermuten, dass die Fortpflanzung in Tiefen zwischen 400 und 1000 Metern stattfindet.

Sargassosee

In dieser finalen Phase ihres Lebens setzen die Aale ihre gesamte verbliebene Energie für die Fortpflanzung ein. Die Weibchen „legen“ Hunderttausende bis Millionen von Eiern ab, die von den Männchen extern befruchtet werden. Danach bleibt den erschöpften Tieren keine Kraft mehr übrig – sie sterben, ohne jemals zu ihren Heimatgewässern zurückzukehren.
Mit dem Schlüpfen der Larven beginnt der Zyklus von Neuem. Die jungen Aale, zunächst als leuchtend durchscheinende Leptocephalus-Larven bekannt, treiben mit den Meeresströmungen Richtung Europa, wo sie sich nach drei Jahren in Glasaale verwandeln und flussaufwärts wandern, um neue Lebensräume zu besiedeln oder z.T. ungeeigneten Gewässern umgesiedelt werden. Eine Diskussion über eine fehlende Berücksichtigung einer ggf. falschen genombezogene Besatzpraxis würde an dieser Stelle zu weit führen.

Die Zukunft des Europäischen Aals bleibt ungewiss. Obwohl Schutzmaßnahmen ergriffen wurden, darunter Fangverbote für Glasaale und Renaturierungsprojekte für Flüsse, gibt es weiterhin große Herausforderungen. Eines der größten Probleme besteht darin, dass die gesetzlichen Mindestmaße für Aale in Deutschland dazu führen, dass fast ausschließlich weibliche Tiere entnommen werden. Dies beeinträchtigt den Fortpflanzungserfolg der Art erheblich. Wissenschaftler und Umweltschützer fordern daher eine Anpassung dieser Vorschriften, um das Überleben der Art langfristig zu sichern.

Trotz aller Herausforderungen bleibt der Aal eines der faszinierendsten und geheimnisvollsten Tiere unserer Gewässer – ein Wesen, das seit Jahrhunderten Forscher, Fischer und sogar Psychologen wie Sigmund Freud beschäftigt hat. Die Tatsache, dass seine Fortpflanzung lange Zeit unbekannt war, führte zu zahlreichen Mythen und Spekulationen. Freud selbst begann seine Karriere mit der Suche nach den Geschlechtsorganen des Aals – eine vergebliche Mühe, die symbolisch für das Mysterium steht, das dieses Tier bis heute umgibt.

Die Forschung zur Wanderung und Fortpflanzung der Aale hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht:


Satellitentracking enthüllt unerwartete Wanderungsrouten: Aale folgen nicht immer dem direkten Weg zur Sargassosee, sondern legen oft große Umwege ein.

Genetische Anpassungen an Umweltbedingungen: Epigenetische Studien zeigen, dass Schadstoffbelastungen das Verhalten und die Physiologie der Aale beeinflussen können.

Zusammenhang zwischen Fettreserven und Laicherfolg: Aale mit geringeren Fettreserven haben eine signifikant niedrigere Überlebenswahrscheinlichkeit.

Erste Hinweise auf Laichorte: Zwar wurde noch kein laichender Aal direkt beobachtet, doch Analysen von Larvenverbreitungen deuten auf Tiefen von 400 bis 1000 Metern hin.

Die Bestände des Europäischen Aals sind dramatisch gesunken. Seit den 1980er-Jahren sind sie um über 90 % zurückgegangen. Achtung! Genau zu diesem Zeitpunkt wurde der Schwimmblasenwurm (Eustrongylides) aus Asien, vermutlich ein Schiff aus Taiwan nach Bremerhaven beim leeren Belastungswassertanks (zur Regelung des Tiefgangs eines großen Schiffes benötigt), nach Europa eingeschleppt. Immer mehr Wissenschaftler versuchen, das Überleben dieser faszinierenden Art zu sichern (eine Auswahl):

  • Strengere Fangquoten und Exportverbote für Glasaale
  • Nachzuchtprogramme in Aquakulturen (bisher erfolglos in der Fortpflanzung).
  • Wiederherstellung natürlicher Flussläufe durch den Rückbau von Wehren (+ Wasserkraftwerke).
  • Internationale Schutzabkommen zum Erhalt der Bestände.

Der Europäische Aal ist ein Wunder der Natur, doch sein Überleben hängt vom Menschen ab. Sein geheimnisvoller Lebenszyklus fasziniert Wissenschaftler seit Jahrhunderten – doch ob es gelingt, ihn vor dem Aussterben zu bewahren, bleibt ungewiss. Eines jedoch ist sicher: Solange es Aale gibt, wird ihr Mysterium die Wissenschaft weiter herausfordern.

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